Später, Jahre später, habe ich immer gedacht, dass sich Petra nie mehr bei mir gemeldet hat. Ich weiß nicht, wann sich dieser Gedanke bei mir eingefressen hat. Und wieso?
Es stimmt nämlich überhaupt nicht. Natürlich hatte sie mir einen Brief geschrieben und zwar mit Datum vom 29. Juli 1976, den ich am 30. Juli erhalten habe. In diesem Brief schrieb sie mir in etwa, "Lieber Peter, komm doch bitte bald wieder zu mir nach Kannawurf!"
Von dem Vorkommnis stand kein einziges Wort in dem Brief.
Da kam der Dummkopf in mir hoch und ich verstand nicht, dass der Brief bedeutet, dass ich nicht mehr böse sein soll und dass alles gut wird und dass Petra das ja nun nicht extra in den Brief schreiben muss. Was wollte ich denn mehr? Aber ich dachte andersrum, nämlich so: wenn sie denkt, das einfach umgehen zu können und nun so zu tun als wäre nichts ... das geht garnicht! Nicht mit mir. Und deshalb habe ich nicht drauf geantwortet und bin auch nicht mehr nach Kannawurf gefahren. Und ich kam mir dabei noch so stark und ehrlich vor! Und ich dachte mir "Was sollte das denn mal später werden, wenn es jetzt schon so los geht ... Ich bin jetzt trotzig und bleibe es auch. Denn ich bin im Recht".
Jeder der das liest wird mir zurufen: "Also war deine Liebe nicht groß genug".
Aber das sagt sich so leicht, weil es so schön logisch klingt. Selbst die große DDR-Schriftstellerin Gisela Steineckert schrieb in ihrem Gedicht "Einmal überfiel mich die Trauer":
... wir waren nicht zu jung
die Liebe war nicht groß genug
Lieber September, 1981, S. 72
Und hier möchte ich doch einmal widersprechen. So leicht ist das nicht. Ich habe Petra sehr geliebt. Und ich verfluche den Tag, als ich ihren Brief ignoriert habe. Ich werde es mir bis zu meinem Lebensende nie verzeihen, dass ich das gemacht habe.
Der Psychologe im Leser möge mich beraten. Was war mit mir geschehen? Warum habe ich den Brief nicht verstanden und warum habe ich ihn als schlecht statt als gut empfunden? War es nur die männliche Dummheit einer falsch verstandenen Logik? Oder saß da etwas in meiner Seele, das mit meinem Jugendgefängnis zu tun hatte? Ein Unrecht, das in mir arbeitete und nun, völlig sinnlos und ohne jede Begründung hier ein "Recht" behalten wollte, ohne die Tragweite der Entscheidung zu beachten?
Ich weiß es nicht.
Natürlich hatte ich mich getröstet: andre Mütter haben auch schöne Töchter. Das sagt man so. Aber ernst gemeint hatte ich das nicht.
Und doch klingen solche Lieder in den Ohren junger Menschen:
Drei Schritte ins Leben
bin ich erst gegangen
Falle schöner Augen
hielt mich schon gefangen
Aber so früh
lenkt ein Schiff doch nicht heim
leicht gefundener Reim
was ist angesagt
noch ist dem Leben nichts abgejagt
zu wenig erlebt
was schlägt oder hebt
nein aber nein
mein Schiffchen Leben
fährt in was Neues eben
und lenkt noch nicht ein
...
Gisela Steineckert, Liederbriefe, 1981, S. 120
Ich hatte damals noch nicht begriffen, wie wertvoll Liebe ist. Da ich Petra nicht mehr geantwortet hatte, dachte sie, dass ich sie nicht mehr lieb hätte. Von meiner verdrehten Logik konnte sie ja nichts wissen.
... War ein Erinnern
weh, so weh
warn ein ein paar Worte
geh, so geh
einmal gesagt, holst du's nicht mehr ein
die Müh ist zu klein ...
aus "War eine Flamme", Gisela Steineckert, Lass dich erinnern, DDR 1987, Seite 23
Aber wie ich schon sagte, ich hatte mir dann später lange Zeit eingebildet, dass Petra sich nicht mehr bei mir gemeldet hatte. Aber macht das einen Unterschied? Ja, einen großen!
Aber wäre es nicht in jedem Fall meine Aufgabe gewesen, mich bei ihr zu melden? Ja natürlich! Denn ich hatte sie so sehr lieb. Aber ich dachte, was solls, das ist eben Schicksal. Und die Liebe liegt überall auf der Straße und man braucht sich nur zu bücken um sie aufzuheben.
Wie sehr ich meiner lieben Petra weh getan habe, war mir damals nicht bewusst. Besonders da es doch überhaupt keinen Grund dafür gab. Und wenn ich irgendwelche Spiele wegen Recht und Unrecht oder Logik in meiner Jugend ausprobieren wollte, dann doch nicht an diesem Mädchen! Ohne jedes Recht, ohne jeden Grund.
Das hat ihr sehr weh getan, besonders da sie ja selber noch so jung war, 1,5 Jahre jünger als ich; jung, ehrlich und einfältig, wie man es als guter Mensch nur sein kann.